Turnschuh brennt

Hätte der liebe Gott gewollt, dass der Mensch ein schneller Läufer wird, dann hätte er ihm vier Pfoten und ein helles Fell mit dunklen Punkten gegeben. Da er ihm stattdessen einen Hintern geschenkt hat, der sich dynamisch der Breite der jeweiligen Couch anpasst, wird es immer wieder zu den hier beschriebenen Aussetzern kommen.
 
 
 
 
 
„Turnschuh brennt…“
 
Was macht ein Beamter, wenn er beim Laufen hingefallen ist?
Er nimmt die Hände aus den Hosentaschen.
Dieses Vorurteil galt es zu widerlegen, als sich zum WIKA Staffelmarathon gleich drei Mannschaften aus dem Landratsamt Miltenberg angemeldet hatten. Neben dem Team 2006 und der Spaßmannschaft ging erstmals eine Auswahl des Jugendamtes an den Start.
Da blieb der Spott natürlich nicht aus: "Hey, da läuft der Öffentliche Jugendhilfeträger! Jaja, einer träger als der andere“.
Beim Staffelmarathon teilen sich sieben Läufer die Marathonstrecke so ein, dass jeder einen sechs Kilometer langen Rundkurs zu bewältigen hat. Dieses Prinzip kannten wir schon von unserer täglichen Arbeit: sieben Leute machen das, wofür man sonst nur einen braucht.
Eine Strecke von 6 km - das hört sich zunächst nach einer lösbaren Aufgabe an, aber da sind die aufpeitschenden Zurufe aus dem Publikum, die Partystimmung, die Aufregung, wenn über 900 Läufer auf ihren Start warten. Und da sind die Motivationsbremsen, wenn zum Beispiel gleich nach der ersten Runde ein Läufer im Zielbereich nur noch wortlos nach den Sanis winken kann, bevor er rechts und links geschultert zum Rot-Kreuz-Zelt gezogen wird. Aber Bange machen gilt nicht. Deshalb lassen wir uns im Team von den teilweise skurrilen Szenen mit den ankommenden Läufern nicht irritieren, sondern biegen unsere Knochen und schielen nur ab und zu nervös zu den Rotkreuz Zelten, wo eifrig Infusionen gelegt werden. Extra für den Lauf haben wir uns T-Shirts drucken lassen, auf dem Rücken steht in Anspielung an einen erfolgreichen deutschen Film: „Sabine rennt…“, oder „Christian rennt...“
 
Gerade läuft Peter vom Team 2006 ein - sein Gesicht bleich und verzerrt, die Augen liegen tief in den Höhlen. Wie ferngesteuert peilt er den Getränkestand an und gibt mir im Vorübergehen einen Klaps auf die Schultern, den Blick auf unendlich eingefroren. Als Bub habe ich meinen Opa kurz vor dessen Beerdigung in der Kapelle aufgebahrt gesehen. Da war der schon drei Tage tot und hat immer noch gesünder ausgesehen als der Kollege jetzt. Aber gut, die Leute vom Team 2006 gehören zu den Leistungsträgern des Landratsamtes, da darf man schon ein gewisses sichtbares Engagement erwarten.
 
Bei mir wird das natürlich anders sein. Wie ein junger Hirsch werde ich auf die Zielgerade einbiegen, die Läufer vor mir überhole ich lässig mit einem 100.000 Dollar Lächeln, kurz vor der Ziellinie werfe ich die Arme nach oben, die Regie geht auf Zeitlupe. Männer streichen sich bewundernd übers Kinn, Frauen zerdrücken die eine oder andere Träne. Ja, so und nicht anders wird es bei mir sein. Aber wie sagt schon Ron Dennis: To finish as first, you have to finish first. Bevor du als Erster ins Ziel kommst, musst du eben überhaupt erstmal ins Ziel kommen. Und das ist beim Staffelmarathon keine Selbstverständlichkeit. Anspruchsvoll wird die Strecke von den meisten Läufern genannt. Ich sage, wer so eine Strecke aussucht, will damit eine schwierige Kindheit verarbeiten. Warum sonst mutet man unbescholtenen Bürgern eine derartige Strapaze zu?
Natürlich muss man so einen Lauf taktisch klug angehen lassen und bloß nicht zu schnell starten, das wäre fatal. Der Sprecher kündigt die Ankunft von Mefi auf der Zielgeraden an, sie klatscht mich ab und ich renne los wie ein Gestörter.
Ich bin in diesem Moment der einzige, der startet und jeder im Publikum treibt mich an. Die Leute sehen natürlich alle meinen Namen auf dem Rücken: „Detlef rennt...“
Nach 200 m bin ich fix und fertig, raus aus dem WIKA Gelände und auf den Feldweg Richtung Wörth.
Hier gibt es Gegenverkehr mit den Glücklichen, die es gleich hinter sich haben.
Wo bitte kommt der Typ her, der mich jetzt überholt?
Und die zwei, die gleich anschließend an mir vorbeiziehen? Egal, ich schleppe mich um die Kurve auf die erste kurze Steigung. Oben stehen die Strobels und feuern mich an. Anne Strobel ruft mir zu: "Jetzt hast du die Steigung gepackt."
Das ist das Schönste, was jemals eine Frau zu mir gesagt hat. Aber wie alle Frauen  erzählt sie mir eben nur das, was ich hören will. Die bittere Wahrheit verschweigt sie.
Die bittere Wahrheit beginnt in diesem Fall etwa 300 m weiter. Die Zeitungen werden in den nächsten Tagen von einer längeren Steigung im ersten Drittel berichten, ich nenne so etwas einen Blutsturzbuckel. Ganz heimtückisch fängt die Quälerei an. Ich sehe erst gar nicht, dass es bergauf geht, wundere mich nur, dass ich immer langsamer werde. Auf meinem T-Shirt sollte jetzt stehen: „Detlef pennt...“ Da bringt auch die aus humanitären Gründen aufgebaute Dusche am Wegrand nur einen Tropfen auf den heißen Läufer.
Dass mich auf dieser lang gezogenen Steigung immer wieder Läufer überholen, die lange nach mir gestartet sind, ignoriere ich mittlerweile mit stoischem Gleichmut. Nach der Unterführung der B 469 wird die Steigung konkret. Und ich bin der einsamste Mensch auf der Strecke - bis auf die ständigen Überholungen natürlich. Jetzt beginnt das, was ich psychologische Kriegsführung nenne: vor jeder Kurve meine ich, endlich oben angekommen zu sein. Und nach jeder Kurve stelle ich fest, dass die Tortur weitergeht. Das macht mürbe. Der Spruch auf meinem T-Shirt lautet nun: „Detlef flennt...“
Auf die linke Schulter hat sich das Teufelchen gesetzt: „Komm Junge, gib auf, was soll das alles. Bringt doch nichts. Bleib stehen“. Und selbst das Engelchen auf der rechten Schulter meint: „Der Kollege hat recht, du hast keine Chance. Zeige Charakter und setz dich einfach hin“. Zum Glück bin ich zu fertig, um noch auf diese Einflüsterungen zu hören. Luft bekomme ich längst nicht mehr, den Großteil meiner Lunge habe ich schon zu Beginn der Steigung ausgespuckt, dort liegt sie nun als stille Mahnung an jeden übereifrigen Läufer.
 
Nach einem Kilometer Steigung und einer weiteren Rettungsmannschaft am Wegrand ist die höchste Stelle der Strecke endlich erreicht und es geht kerzengerade bergab. Jetzt schreien die Knochen und Gelenke. Wer glaubt, hier beginnt der gemütliche Teil des Nachmittags, liegt falsch. Die Strecke verläuft auch in der zweiten Hälfte munter auf und ab. An der nächsten kleinen Steigung zieht ein Läufer in einem Höllentempo an mir vorbei. So schnell bin ich das letzte Mal gerannt, als ich diese schlimme Magen-Darm-Grippe hatte. Ich wünsche dem Mann in der Staubwolke vor mir gute Besserung und schiele auf die pure Versuchung, die sich mir nun zeigt. Rechts vor mir ist ein Feldweg abgesperrt - die Abkürzung ins gelobte Land. Der Feuerwehrmann am Versorgungspunkt daneben kann Gedanken lesen und schaut mich böse an. Also weiter auf der offiziellen Strecke und über die Brücke der B 469. Die hätte man sicherlich auch flacher bauen können. Über so was  kann ich mich schon wieder aufregen.
 
Den Seefahrern verkünden Möwen das nahe Land, mir zeigt der Begegnungsverkehr mit den Startern der nächsten Runde, dass ich kurz vor dem WIKA Gelände bin. Aus der Zuschauermenge funkeln mich die Augen meines Töchterchens an, das wirkt wie Koffein direkt in die Halsschlagader, Schlusssprint, wie im Nebel sehe ich Bernd, unseren nächsten Läufer im Zielbereich. Nichts ist mit Siegerpose in Zeitlupe. Benommen stolpere ich über die Ziellinie, habe ich jetzt Bernd abgeklatscht oder warum reibt sich der Feuerwehrmann die Wange? Sobald ich aufhöre zu laufen, fährt der Körper ohne Vorwarnung alle Systeme herunter - bitte speichern Sie die noch geöffneten Dateien. Die Umgebung nehme ich plötzlich wie durch ein umgedrehtes Fernglas war, nur etwa um 45° in der Längsachse verschoben. Aber die Füße sind wohl noch auf dem Boden, auch wenn sie in verschiedene Richtungen zeigen. Die Leute, die an mir vorüber kommen, blicken mir ungläubig in die Augen, so als würden sie darin nach einem versteckten Hinweis auf Leben suchen.
Aber ich weiß, was sie stattdessen sehen: eine dunkle, leere Schädelhöhle an deren hinterer Wand ein kleiner gelber Zettel hängt: „Ich bin derzeit leider nicht erreichbar“.
In dieser Situation habe ich nur ein Ziel: unbemerkt an den Rot-Kreuz-Zelten vorbei kommen und bloß keinem Sani auffallen. In unkoordinierten Zuckungen werfe ich die Füße nach vorne und komme tatsächlich unbehelligt auf ein ruhiges Wiesenstück. Sanis rennen mit einer Bahre an mir vorbei in den Start-Ziel-Bereich.
 
Langsam, ganz langsam fährt der Rechner wieder hoch, das nasse T-Shirt bekomme ich aber nicht über den Kopf. „Detlef klemmt...“
Der Konrektor der Klingenberger Volksschule ruft mir zu: „Na, Herr Scheiber, sie schauen ja schon wieder ganz frech aus“. Er irrt. Ich lächle nicht. Ich muss nur meine Mundwinkel bis zu den Ohren ziehen, um genügend Luft zu bekommen.
Je mehr sich jetzt der Schleier verzieht, umso sympathischer werden mir plötzlich die Veranstaltung und die Strecke.
Klar, einfach kann jeder. Und mal im Ernst: wir haben zwar nichts gewonnen und eine Kollegin wurde auf der Bahre abtransportiert, aber es hat sich zumindest keiner verlaufen. Und ganz egal, was die Stoppuhr sagt: jeder macht sein eigenes Rennen, und jeder läuft es gegen sich selbst.
Aber jetzt ist Party angesagt. Party zusammen mit den 772 Läufern, die schneller waren als ich und der Handvoll, die nach mir kamen. Und zusammen mit den Streckenposten, den Sanis, den Feuerwehrmännern und allen Helfern, die an diesem Tag wirklich einen tollen Job gemacht haben.  
Bleibt noch zu sagen, dass es dann auch für mich noch ein Erfolgserlebnis gab: auf der Heimfahrt bin ich mit dem Auto in eine Verkehrskontrolle geraten. Wenigstens hier war ich unter den schnellsten Drei.